Napoleon Raskolnikow im Schnee Dostojewski assoziativ und doch abgründig als Koproduktion von Johanna Niedermüller inszeniert Raskolnikow hat vier Bewährungshelfer Von Verena Großkreutz


13. Juli 2010

Beim Verlassen des Stuttgarter Theaters Rampe pfiff man an diesem Abend ausgerechnet Bachs gefühliges "Erbarme dich, mein Gott" aus der Matthäus-Passion vor sich hin. Aber nicht in schwermütiger Stimmung, die die Thematik des Theaterabends eigentlich in einem hätte hinterlassen müssen, sondern eher in fröhlicher. Grund dafür war wohl die Leichtigkeit, mit der sich das freie Theaterlabel TART-Produktion auf der Bühne seines Kooperationspartners Theater Rampe an den schwergewichtigen Roman "Verbrechen und Strafe" (früher besser bekannt als "Schuld und Sühne") von Fjodor Dostojewski herangewagt hatte.

Schuld und Sühne light
Den Roman, mit dem man sich monatelang beschäftigen kann, hatte man auf gut 75 Theaterminuten zusammenschnurren lassen. Die Textfassung von Bernhard M. Eusterschulte und Rebecca Mühlich bietet eine Art Stream of consciousness, einen Bewusstseinsstrom aus Textfragmenten und Motiven des Romans und aktualisierten Umformulierungen.
Zentrum ist das Ich Raskolnikows, des Protagonisten des Romans: Ein größenwahnsinniger, hochintelligenter, armer Jurastudent, der aus Habgier im Dienste des gesellschaftlichen Aufstiegs zum Doppelmörder wird: Er schlägt der Pfandleiherin Aljona Iwanowa ein Beil in den Kopf, und auch deren zufällig auftauchende Schwester muss dran glauben. Raskolnikows Rechtfertigung: Der Zweck heiligt die Mittel, wie im Falle Napoleons und anderer großer Männer. "Was bedeutet auf der großen Waage das Leben dieser bösen Alten? Doch kaum mehr als das Leben einer Laus, einer Küchenschabe und noch weniger", denkt er.

Die Morde oder andere Handlungselemente des Romans werden auf der Bühne der Rampe nicht gezeigt, nur angedeutet im Wörterfluss. Nicht immer ist es einfach, dem zu folgen. Aufgeteilt ist der Text auf vier Personen, die alle Raskolnikow sind. Auch auf der Bühne anwesend: Der Cellist Scott Roller, der das Bühnengeschehen mit sachten Melodien, "La Cucaracha" oder "All you need ist love" der Beatles kommentiert.
Popcornattacken gegen das eigene Ich Regisseurin Johanna Niedermüller hat ganz unterschiedliche Typen inszeniert: Den Anzug tragenden Rationalisten und PR-Menschen (Bernhard Linke), den bodenständigen "Normalo" in geflickten Schuhen und Jogginghose (Klaus Gramüller), den versoffenen, rauchenden, in sich gefangenen Melancholiker in Rüschenhemd (Georgi Novakov), der mit breitem bulgarischen Akzent manchmal zu übertrieben die Sätze in die Länge dehnt, und den barfüßigen, emotionalen, tanzenden Ästheten (Tom Baert).
Die vier diskutieren beständig miteinander, beschimpfen sich, spucken sich Popcorn ins Gesicht, das die Papiertüten mit "Fotze schlachten"-Aufdruck füllt. Man tanzt gelegentlich Blues und fasst sich an den Hintern oder schupst sich von der Rampe. Immer wieder kommt man zu demselben Schluss: Die Morde waren im Grunde nicht das Problem. Das eigentliche Verbrechen war ihre dilettantische Ausführung: Der Mord an der Schwester war nicht geplant, die Hals-über-Kopf-Flucht genauso wenig, und das Geld, um das es eigentlich ging, blieb auch liegen. Raskolnikow scheiterte an seinem eigenen Anspruch.

Viergeteilt und theoeriegesättigt
Die Bühne ist minimalistisch ausgestattet. Ein Tisch, Stühle, eine Tapetenwand voller Zettel: "Verbrechen schafft Arbeit", "In mir tobt die Theorie", "Gewissen ist Mangel an Selbstdisziplin". Im Fluss hin- und herspringender Gedanken und Assoziationen geht es an diesem Abend immer wieder um die Frage, was das ist: Gewissen, Selbstverantwortung, Schuld? Alles das ist dem Protagonisten fremd. Es ekelt ihn vor den Menschen. Die Roman-Figur der liebenden Sonja bleibt weitgehend ausgespart. Dafür unterbricht einmal Raskolnikows Bewährungshelferin (Nina Heller) das Geschehen. Sie gibt ihm keine "positive Sozialprognose", weil er sich so verhält wie die meisten Verbrecher: er kann seine Tat nicht angemessen reflektieren, sucht die Schuld bei anderen.

Was die Bach-Arie "Erbarme dich, mein Gott" angeht. Die war Teil der stärksten Phase der Inszenierung: Tanztheaterspezialist Tom Baert tanzt Raskolnikow, wie er mit dem Freitod kokettiert: zeigt seine innere Leere, seinen Selbsthass, seine Verzweiflung. Dazu spielt Scott Roller "Erbarme dich, mein Gott": ganz ruhig, mit dem Cello nur die Basslinie andeutend, die Melodie pfeifend und summend. Fein!

Einer von vielen
Und die Message des Abends? In Zeiten unserer Wirtschaftsdiktatur, in der Moral, Mitgefühl, Solidarität durch Abwesenheit glänzen, ist Raskolnikow nur einer von vielen. Der Abend schließt mit der Rezitation seines "Traums von den Trichinen", von einer unheimlichen Seuche, die die Menschheit befällt und sie in die Selbstvernichtung treibt. Nichts Gutes, was uns in Aussicht gestellt wird. Und doch nichts, was einem die Laune verdürbe. Dank dieses kurzweiligen, assoziativen, dennoch abgründigen Theaterabends, der die Pflichtlektüre des Romanes freilich nicht ersetzt.